Krokodilstraining und Kasperle auf dem Sprung

Wie ticken Autorinnen und Autoren, Leute, die Romanfiguren erschaffen und dem kreativen Schreiben verpflichtet sind? Frage ich mich auch immer – und was zuerst da war oder ist. Ich oder mein Personal?  

Schreiben von Geschichten heißt, Figuren großzuziehen und sie dann machen zu lassen. Was ist das? Eine multiple Persönlichkeitslust gefolgt vom kühlen Blick der Meditationsmeisterin oder des Meditationsmeisters? Wurscht. Es macht fürchterlich Spaß. Wirklich! Trotzdem sitze ich manchmal mit einer Tasse Kaffee da und frage mich, was ich da eigentlich treibe, wenn ich Geschichten schreibe und mich mit meinem neuen Personal absprechen muss. Da ist der Hang zur männlichen Hauptfigur und das Bedürfnis, meinem neuen Begleiter möglichst dreidimensionale Gefährtinnen und Gefährten und schwer einzuschätzende Gegenspielerinnen und Gegenspieler zu servieren. Ich versuche, mit meinem Helden zu verschmelzen, dann steige ich als Bösewicht, Trickster, Vertraute und vierbeiniger Kumpel in den Ring. Ich übe mich im Jaulen und Schwanzwedeln genauso wie im Aktienhandel mit Insiderwissen oder dem Lügen für die kleine Cousine. 

Was bedeutet das eigentlich? Wo kommt das her? Es gibt eine Vermutung: Als junge Frau habe ich diesen Impuls deutlich gespürt, diesen Hang, nicht ich sein zu wollen. Da war die Frage, wer soll das überhaupt sein? Ich? Na, dein Charakter, das, was dich im Innersten ausmacht, dein innerer Kern, lautete die gängige Antwort. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich genau diesen inneren Kern nicht habe oder er sich einfach immer wieder verändert. Bliebe noch das, was andere in mir sehen oder besser gesagt, in mir sehen möchten. Kein besserer Anker. Die einen wollen mich so, die anderen so, ist möglicherweise ihr gutes Recht, mein Bauch sagt trotzdem: Bin ich nicht, will ich nicht und am liebsten – ich kann auch ganz anders! 

Immer wenn mir jemand mit strengen oder werblichen Identitätsangeboten kommt, spüre ich eine Gänsehaut, schließlich verwandeln sich die Härchen in Stacheln und stellen sich auf. Manche Trödler schaffen es, mir etwas anzubieten, das mir doch charmant erscheint, ich schlüpfe hinein, aber in der Regel passiert es mir nach einiger Zeit, dass ich genau das Gegenteil ausprobieren möchte. Mittlerweile hat sich das als gar nicht so schlechtes Training fürs Geschichtenschreiben erwiesen. Was darf es heute sein? Ein echter Kotzbrocken, der stille Junge am Rande, die Strippenzieherin im Immobilienverwaltungsteam? Klar, das sind auch nur Schubladen, aber beim Erzählen kann das hilfreich sein, und es macht mir Spaß, das Problem im Zentrum der Geschichte von ganz verschiedenen Protagonisten anpacken zu lassen. Jede und jeder wird es ein klein wenig anders lösen. Und am allerschönsten ist es, wenn mich mein Personal dabei überrascht. Denn dann agiert es selbstständig, ist praktisch erwachsen und ich beobachte die Szenerie vielmehr. 

Ich gebe zu, es ist schon größenwahnsinnig zu sagen, ich bin viele. Der Schritt zu – ich möchte alle sein – scheint nicht mehr allzu weit entfernt. Aber es ist mir ein Bedürfnis, nicht ich oder zumindest nicht nur ich zu sein. Es ist wie ein Spielen mit dem Ziel herauszufinden, wer könnte hier die beste Strategie, den passenden Charakter für die Problemlage meiner Geschichte haben? Vermutlich steckt auch eine Lust dahinter, sich ständig verwandeln zu können, was einem im Alltag in der Regel nicht vergönnt ist. Eine Art inneres Kasperletheater für Erwachsene. Die Interpretation der Spiellust ist sicher die gnädigere. Strenger wäre, zu sagen, klar, die will nicht erwachsen werden, sich nicht festlegen. 

Noch strenger würde eine Auslegung ausfallen, die sich bei der Soziologie und Sozialpsychologie bedient und schlussfolgert: Das ist vorauseilender Gehorsam, als Schreibende ist man schon so postpostmodern brav unterwegs, dass die Bereitschaft zur Flexibilität eine Charakterkernschmelze bewirkt hat und die Identität in eine wie auch immer  chamäleonhafte Modelliermasse übergegangen ist, die sich immer neu formiert und den jeweils notwendigen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Bedingungen anpasst. 

Da könnte schon was dran sein. Und doch würde ich mich nicht auf solch ein zeitgemäßes Überlebenstraining festlegen wollen. Ich kann auf meinen sorgsam kultivierten Stachelaufstellreflex zählen und werde mich demnächst daran machen, eine Figur auf die Bühne treten zu lassen, die stoisch an ihrer Identität festhält und an der sich sämtliche Persönlichkeitsentwicklungstrainer die Zähne ausbeißen, weil sie so in sich ruht, dass eine Veränderung noch nicht mal im Ansatz möglich ist. 

Es lebe mein inneres Kasperletheater! Ihr kriegt mich nicht. Jedenfalls nicht vor dem 346 999. Vorhang und einem komplett verwandelten Krokodil, das Kasperle einen Heiratsantrag macht. Aber der Rotkapuzenmann hat sich gerade frisch in Räuber Hotzenplotz verliebt. 

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Schreibtipp

Es ist immer wieder ein Genuss beim, durch und mit dem Schreiben einen Perspektivwechsel zu vollziehen und sich ganz in diese andere Sichtweise fallen zu lassen. Dies ist ein auch ein gutes Training fürs Entwickeln und spätere Begleiten von Figuren. Versuch es doch mal mit einer Perspektive, die etwas weiter von dir entfernt ist: Schreibe eine Szene aus der Sicht eines deiner Spielzeuge, die du als Kind geliebt hast. Wenn du gleich Spannung mitreinbringen möchtest: Dein Spielzeug gerät in Gefahr!

Einige weiterführende, aber auch ganz praktische Gedanken und Tipps zum Thema hat Hans Peter Roentgen in folgendem Artikel zusammengetragen: https://www.autorenwelt.de/blog/federwelt/perspektiven-verstehen-romanfiguren-spannend-beschreiben.

Zu ein paar der Figuren von Christine Schick und ihrem Roman „Die reiche Zukunft hat ein Double“ findest du hier Informationen. Info zu den Figuren von Christine Schickt

Über Christine Schick

Schreibcoach Christine Schick

Christine Schick hat während ihres Psychologiestudiums in Berlin kurz nach dem Mauerfall ihre ersten Schritte im kreativen Schreiben gemacht. Die Kreuzung beider Leidenschaften ergab ein Aufbaustudium der Medienwissenschaft und -praxis in Tübingen. Heute arbeitet sie als Redakteurin für eine Lokalzeitung, frönt darüber hinaus ihrer Schreiblust und gibt Schreibkurse. 

Schreib dich frei

Christine Schick ist Journalistin, Autorin und Schreibcoach der Pegasus Schreibschule. Gern unterstützt sie dich bei der Umsetzung deiner Buchideen!

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